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Teppichknüpferei


Nigar teyze setzt sich auf einen Kissen vor ihrem Webstuhl und deckt sich mit einer Decke den Schoß zu. Es ist eisig kalt und zieht. Meine Augen wandern durch ihren Hof und suchen nach einem Unterschlupf, werden aber nicht fündig. „Frierst du nicht, Nigar teyze?“, frage ich. „Nein, mein Kind, ich bin das gewohnt“, antwortet sie und es ist beschlossene Sache: ich muss da jetzt auch durch.

Manchmal, wenn Nigar teyze ihre Teppiche knüpft, singt sie alte Volkslieder. „Sing’ ihr doch das Lied von deinem Uropa vor“, meint ihre Nachbarin, die es unwiderstehlich findet, stets unaufgefordert ihre Meinung zu äußern. Diesmal bin ich ihr aber dankbar, denn ich möchte unbedingt mehr über die Geschichte hinter diesem Lied erfahren. „Mein Urgroßvater liebte ein Mädchen“, erzählt Nigar teyze, „doch ihre Familien stellten sich gegen ihre Liebe. Also beschlossen die zwei, gemeinsam zu fliehen. Die Familie des Mädchens aber beschwerte sich bei der Gendarmerie und so wurden sie auf der Flucht gefasst. Das Mädchen wurde zurück zu ihrer Familie verbracht, mein Urgroßvater wurde wegen Entführung eingesperrt. In Gefangenschaft sang er dann dieses Lied über sein Liebesleid. Als der Kommandant ihn singen hörte, hatte er Nachsicht. Wer so voller Leidenschaft und unnachgiebig liebte, hätte sich das Mädchen doch redlich verdient. Zurück in seinem Dorf waren ihre Familien jedoch noch immer anderer Meinung als der Kommandant: die zwei wurden niemals ein Paar, sondern mit jeweils anderen Partnern verheiratet. Noch Jahrzehnte später, als mein Uropa und der Ehemann dieser Frau längst verstorben waren, brachte sie meiner Mutter Äpfel aus ihrem Garten: ,Für die Kinder meines Yusuf’, sagte sie.“

Nigar teyzes Geschichte lässt mich die Kälte vergessen. Sie selbst wäre heute, mit 66 Jahren, als Tagelöhnerin Äpfel sammeln gegangen, blieb aber daheim, als sie hörte, dass wir kommen würden. Und sie selbst war mit einem Mann verheiratet worden, den sie nicht liebte, den aber ihre Familie für sie vorgesehen hatte. Ihr Leben lang war sie nicht nur für den Haushalt, sondern auch für den Unterhalt ihrer Familie verantwortlich. „Frauen wurden als Menschen zweiter Klasse behandelt“, sagt sie, „für meine Töchter wünsche ich mir etwas anderes.“ Sie sagt das ohne jegliche Verbitterung, als sie die Treppen hochsteigt, noch einmal ihren Eintopf umrührt, der langsam auf dem Herd köchelt und dann im Haus verschwindet. Sie taucht mit einem handgeknüpften Kissen aus ihrer Mitgift wieder hervor, der aussieht, als sei er neu. Und auch dieser Kissen, unschuldig und schön, bringt Nigar teyze auf das Thema, das ihr auf der Seele brennt: die Ungleichbehandlung von Männern und Frauen.

Du möchtest hören, wie Nigar teyze das Lied ihres Uropas singt und wissen, was ihr Kissen mit Gleichberechtigung zu tun hat? Folge uns auf Instagram und verpasse keines ihrer Videos.

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